1. Einleitung und Motivation

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1.1 Die Langzeitbewahrung digitaler Objekte

Die kulturelle Massenproduktion digitaler Artefakte ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Digitale Objekte sind die Güter des Informationszeitalters und bilden wertvolle kulturelle und wissenschaftliche Ressourcen.[1]vgl. Neuroth, H. (Hrsg.); et al.: Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung.Version 2.3. Erschienen im Rahmen des Projektes: nestor – Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung und … Continue reading Sie sind damit Teil des digitalen kulturellen Erbes, dessen dauerhafte Bewahrung zu den dringenden gesellschaftlichen Aufgaben zählt:

“The digital heritage consists of unique resources of human knowledge and expression. It embraces cultural, educational, scientific and administrative resources, as well as technical, legal, medical and other kinds of information created digitally, or converted into digital form from existing analogue resources. Where resources are ‘born digital’, there is no other format but the digital object. […] They are frequently ephemeral, and require purposeful production, maintenance and management to be retained.”[2]UNESCO (Hrsg.): Guidelines for the Preservation of Digital He­ritage. Dokument CI-2003/WS/3, 2003.(UNESCO 2003)

Aufgrund der Eigenschaften und Vielfältigkeit digitaler Artefakte birgt ihre Bewahrung neue technische, rechtliche und organisatorische Herausforderungen für Bibliotheken und Archive. Zum einen ist die Haltbarkeit und Lesbarkeit von digitalen Datenträgern (im Vergleich zu analogen Medien) sehr begrenzt. Je nach eingesetzter Speichertechnologie ist mit einer Lebensdauer des Speichermediums von etwa fünf bis maximal 20 Jahren zu rechnen (vgl. u.a. [AVW 2004][3]Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung e. V. (AVW) (Hrsg.): Sicherheit, Haltbarkeit und Beschaffenheit optischer Speichermedien. 2. Auflage, Eschborn: AWV-Eigenverlag, 2004., [Byers 2003][4]Byers, F.: Care and Handling of CDs and DVDs – A Guide for Librarians and Archivists.Gaithersburg, Maryland: NIST Special Publication, National Institute of Standards and Technology, Oktober 2003., [Slattery u.a. 2004][5]Slattery, O.; Lu, R.; Zheng, J.; Byers, F.; Tang, X.: Stability Comparison of Recordable Optical Discs-A Study of Error Rates in Harsh Conditions. In: Journal of Research of the National Institute … Continue reading für optische und [Pinheiro u.a. 2007][6]Pinheiro, E.; et al.: Failure Trends in a Large Disk Drive Population. In:FAST ’07: 5th USENIX Conference on File and Storage Technologies, 2007, S. 17–29. für magnetische Speichertechnologien). Dies erfordert in regelmäßigen Abständen ein Umkopieren des Datenbestands.

Der hohe Innovationszyklus, getrieben durch die Vorteile der Digitaltechnik, unterwirft digitale Datei- und Speicherformate zudem einem ständigen Wandel.[7]vgl. Loebel, J.-M.: Probleme und Strategien der Langzeitarchivierung multimedialer Objekte. In: Koschke, R.; Herzog, O.; Rödiger, K.-H.; Ronthaler, M. (Hrsg.): INFORMATIK 2007 – Informatik … Continue reading Das weitaus größere Problem bildet hierbei die Interpretation der Datenformate. Die Fülle an Daten- und Dateiformaten, die auf dem Datenträger als gespeicherter Bitstrom vorliegen müssen zur Darstellung mittels eines Softwareprogramms erst logisch interpretiert werden. Es müssen Wege gefunden werden, sämtliche Softwarekomponenten (Objekt, Abspielprogramm, Zusatzprogramme und Betriebssystem) dauerhaft benutzbar zu halten.

Verschärft kommt diese Problematik bei komplexen (interaktiven) multimedialen Objekten, wie beispielsweise Computerspielen zum Tragen. Daten und Abspielprogramm sind eng miteinander verknüpft und Formate in der Regel proprietär, d. h. nicht offengelegt. Durch die Mischung verschiedener Medientypen wie Text, Bilder oder Tonaufzeichnungen bestehen zudem hohe Anforderungen an die Reproduktion der Wiedergabe.

In dieser Arbeit geht es um die Bewahrung solcher komplexer und interaktiver Objekte, anhand derer Gütekriterien für Bewahrungsstrategien sowie prinzipielle Grenzen aufgezeigt werden können, in der Hoffnung, Gelerntes auf weniger komplexe Objekttypen übertragen zu können.

1.2 Die Bedeutung von Computerspielen als Forschungsobjekt

Computer- und Videospiele und vergleichbar komplexe multimediale Artefakte wie Computerkunst sind ein bedeutender Bestandteil des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens geworden – ihre Inhalte, Entstehungsprozesse und Ästhetik Gegenstand zahlreicher Forschungen (siehe Abschnitt 2.1.2). Sie bilden ein neues Massenmedium und Massenphänomen, dessen Bewahrung als Teil des kulturellen Erbes zunehmend im Fokus von Gedächtnisorganisationen wie Bibliotheken, Archiven oder Museen stehen.

Die Geschichte der Computerspiele geht zurück bis in die 1950er-Jahre (vgl. [Loebel 2011a]). Wir sind in der besonderen Lage, zum ersten Mal eine derzeit noch fast lückenlose Dokumentation dieses jungen Mediums zu besitzen und es damit wissenschaftlich aufarbeiten und untersuchen zu können.[8]vgl. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 32. Dazu ist es allerdings notwendig, den Bestand dauerhaft in seiner originären Form zu erhalten. Dabei spielen Zugang und die möglichst authentische Erhaltung der „Abspielumgebung“ und Interaktion mit dem Spiel bzw. digitalen Artefakt eine entscheidende Rolle. Der Kontext eines Spiels entsteht erst durch dessen Interaktion mit dem Nutzer. Das Spiel muss „aufgeführt“ werden, um sinnvoll rezipiert werden zu können.

Darüber hinaus sind multimediale digitale Objekte wie Computerspiele als Forschungsobjekt von Bedeutung, da sie den technischen Fortschritt der Computer- und Softwaretechnologie dokumentieren. Gerade Computerspiele und Computerkunst reizen oft die Grenzen des Mediums bzw. der Hardwareplattform und ihrer Ein-/Ausgabeschnittstellen aus, um – im Falle von Computerspielen – ein attraktives Produkt für den Kunden zu bieten bzw. bei Computerkunst Brüche und Grenzen einer Technologie bzw. eines Mediums aufzuzeigen.[9]vgl. u. a. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 33 und … Continue reading

Für jedwede wissenschaftliche Forschung ist daher die Archivierung und Bewahrung unter Erhaltung des Kontextes und „Look-and-Feel“ des Artefakts durch eine vertrauenswürdige Gedächtnisorganisation unabdingbar.[10]vgl. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 31.

Dabei müssen skalierbare ökonomisch leistbare Strategien gefunden werden, diese Eigenschaften zu erhalten. Die Innovationsgetriebenheit der Computerspielindustrie und die kurzen Produktzyklen erfordern dabei ein schnelles Handeln und die Entwicklung eines fortwährenden Bewahrungsprozesses. Aus technischer Sicht stellt die Bewahrung von Spielen hohe Anforderungen an das Archiv und die eingesetzte Strategie. Computerspiele und andere digitale Artefakte dieser Art gehören aufgrund ihres hohen Grades an Interaktivität und der Vereinigung vieler medialer Elemente (wie z.B. Bild, Ton, Video, 3D) zu den komplexesten digitalen Artefakten der kulturellen Produktion. Es müssen Anforderungskataloge erarbeitet werden, welche auf die spezifischen Bedürfnisse diese Klasse von Objekten zugeschnitten sind.

In der Literatur[11]vgl. u. a. Rothenberg, J.: Avoiding Technological Quicksand – A Report to the Council on Library and Information Resources. 1999. [abgerufen 24.04.2008] wird die Emulation obsoleter Rechnersysteme als einzig mögliche Strategie gehandelt, die in der Lage ist, die wesentlichen Eigenschaften komplexer digitaler Artefakte zu erhalten. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Ansatzes und der technisch, ökonomisch und pragmatisch erreichbaren Authentizität des emulierten Objekts gegenüber dem „Original“ wird jedoch in der Literatur im Kontext der Langzeitbewahrung gar nicht bzw. nur undifferenziert betrachtet. Diese Fragestellungen sind jedoch essenziell, um den Erfolg der Erhaltung beurteilen, Anforderungen, Gütekriterien sowie Best-Practice-Lösungen entwickeln und Aussagen über die Qualität eines Emulators formulieren zu können. Der Erstellungsprozess und die technische Funktionsweise von Emulatoren müssen genauer untersucht werden, um Antworten auf diese Themenkomplexe geben zu können. Ziel dieses Werkes ist es, einen Beitrag dazu zu leisten.

1.3 Struktur der Arbeit im Überblick: Was Sie erwartet

Diese Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Die Eröffnung und Strukturierung des Problemfeldes der Langzeitarchivierung von multimedialen Objekten wie Computerspielen bildet in diesem Kapitel den Ausgangspunkt.

In Kapitel 2 werden Kernbegriffe und Akteure des Diskurses herausgearbeitet und im interdisziplinären Kontext zwischen Informatik, Archiv- und Informationswissenschaften sowie Rechtswissenschaft diskutiert. Merkmale des Untersuchungsgegenstandes werden systematisch erarbeitet und Definitionen von digitalen Objekten aus der Literatur gegenübergestellt, um eine Arbeitsdefinition zu erhalten, aus der Anforderungen an Bewahrungsstrategien ableitbar sind. Anschließend werden bestehende Bewahrungsstrategien anhand dieser Definition und weitere Literaturrecherchen bewertet.

Kapitel 3 befasst sich mit der Emulation als Bewahrungsstrategie, welche sich aufgrund der in Kapitel 2 erarbeiteten Anforderungen herauskristallisiert hat. Zuerst wird das Prinzip im historischen Kontext betrachtet und Einsatzgebiete sowie Vorteile von Emulation und Emulatoren vorgestellt. Nach Aufarbeitung von Vorarbeiten und Forschungsprojekten, die Emulation zur Langzeitbewahrung einsetzen, wird die Struktur, Funktionsweise und der Aufbau von Software-Emulatoren genauer untersucht. Hauptaugenmerk wird auf die alle Systemkomponenten umfassende Full-System-Emulation gelegt. Anschließend werden die möglichen technischen Abstraktionsgrade eines Full-System-Emulators sowie ihre Implementierung in Software und die daraus resultierenden Limitierungen abstrakt vorgestellt und untersucht. Dem folgt eine empirische Analyse des Quelltextes von 41 in der Forschungsliteratur diskutierten und in Forschungsprojekten eingesetzten Emulatoren im Hinblick auf den implementierten technischen Abstraktionsgrad. Den Schluss des Kapitels bildet eine kritische Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der überprüften Emulationsprogramme.

In Kapitel 4 wird der Begriff der Translation Gap definiert, um die in Kapitel 3 festgestellten Abweichungen der Authentizität von Emulatoren anhand des technischen Abstraktionsgrades und weiterer Kriterien systematisch in allen Facetten aufarbeiten zu können. Es werden drei Hauptproblembereiche identifiziert und genauer untersucht. Zuerst werden Translationsprobleme der Schnittstellenmigration durch Unterschiede der Hardware von Original- und Zielsystem weiter aufgeschlüsselt und existierende Best-Practice-Ansätze sowie Alternativen aufgezeigt. Als nächsten Themenschwerpunkt werden Entwicklergruppen und Bezugsquellen für Emulatoren identifiziert und dahingehend diskutiert, inwieweit Motivationen und Ziele dieser Gruppen Einfluss auf die Qualität, Leistungsfähigkeit, Eignung im Kontext der Langzeitarchivierung und Verfügbarkeit von erstellten Emulatoren haben. Danach wird der Quelltext bestehender Emulatoren statistisch evaluiert und dabei auf Implementierungsfehler und damit Abweichungen von der Spezifikation untersucht, um so eine Tendenz für die Komplexität und Fehleranfälligkeit dieser Klasse von Programmen zu erhalten. Veröffentlichte Zahlen zu identifizierten Fehlern in vergangenen Versionen der Programme werden in diese Berechnung einbezogen. Im Anschluss werden die Ergebnisse der drei Themenbereiche kritisch diskutiert und identifizierte Abweichungen bzw. Verluste der Authentizität von Emulatoren systematisch zusammengefasst.

In Kapitel 5 wird versucht, weitere harte Grenzen der Emulationsstrategie zu finden und es werden Erhaltungsstrategien für das Emulationsprogramm selbst evaluiert und kritisch diskutiert. Außerdem werden implizite Annahmen und prinzipbedingte Grenzen der Emulationsstrategie aufgezeigt und kritisch beleuchtet sowie weitere Forschungsfragen identifiziert.

In Kapitel 6 werden die in den vorangegangen Kapiteln festgestellten Abweichungen und Verluste der Authentizität beim Einsatz von Emulation zusammengefasst und eine Prognose für die Zukunft abgegeben.

→ 2. Grundbegriffe und Herausforderungen

 



References

References
1 vgl. Neuroth, H. (Hrsg.); et al.: Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung.Version 2.3. Erschienen im Rahmen des Projektes: nestor – Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen für Deutschland, S. 1:1.
2 UNESCO (Hrsg.): Guidelines for the Preservation of Digital He­ritage. Dokument CI-2003/WS/3, 2003.
3 Arbeitsgemeinschaft für wirtschaftliche Verwaltung e. V. (AVW) (Hrsg.): Sicherheit, Haltbarkeit und Beschaffenheit optischer Speichermedien. 2. Auflage, Eschborn: AWV-Eigenverlag, 2004.
4 Byers, F.: Care and Handling of CDs and DVDs – A Guide for Librarians and Archivists.Gaithersburg, Maryland: NIST Special Publication, National Institute of Standards and Technology, Oktober 2003.
5 Slattery, O.; Lu, R.; Zheng, J.; Byers, F.; Tang, X.: Stability Comparison of Recordable Optical Discs-A Study of Error Rates in Harsh Conditions. In: Journal of Research of the National Institute of Standards and Technology, Volume 109, Number. 5, 2004, S. 517–524.
6 Pinheiro, E.; et al.: Failure Trends in a Large Disk Drive Population. In:FAST ’07: 5th USENIX Conference on File and Storage Technologies, 2007, S. 17–29.
7 vgl. Loebel, J.-M.: Probleme und Strategien der Langzeitarchivierung multimedialer Objekte. In: Koschke, R.; Herzog, O.; Rödiger, K.-H.; Ronthaler, M. (Hrsg.): INFORMATIK 2007 – Informatik trifft Logistik, Beiträge der 37. Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik e.V. – Proceedings, Teil der: Lecture Notes in Informatics (LNI) GI-Edition P-110, Band 2, 2007, S. 509–514.
8 vgl. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 32.
9 vgl. u. a. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 33 und Wolters, O.: Kulturgut und Spitzentechnologie. In: Zimmermann, O.; Geißler, T. (Hrsg.): Streitfall Computerspiele: Computerspiele zwischen kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz. 2. erweiterte Auflage, Berlin: Deutscher Kulturrat e. V., 2008, S. 122
10 vgl. Huth, K.: Probleme und Lösungsansätze zur Archivierung von Computerprogrammen – am Beispiel der Software des ATARI VCS 2600 und des C64. Diplomarbeit, HU Berlin, 2004, S. 31.
11 vgl. u. a. Rothenberg, J.: Avoiding Technological Quicksand – A Report to the Council on Library and Information Resources. 1999. [abgerufen 24.04.2008]